Laudatio für Train of Hope, 8.3.2023

Judith Kohlenberger

Sehr geehrte Stadträtin,

sehr geehrte Gemeinderätinnen und Bezirksrätinnen,

geschätzte Festgäste,

liebe Manuela, liebe Nina und alle Frauen von Train of Hope,

Vor etwas mehr als einem Jahr hat sie begonnen, die bisher größte Fluchtbewegung in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die russische Invasion in der Ukraine ließ vielen Frauen und Kindern, älteren und kranken Menschen keine andere Wahl, als Hals über Kopf, mit wenig Habseligkeiten und oft nur mit der Kleidung, die sie gerade am Leib trugen, ihre Heimat zu verlassen und in Nachbarländern, aber auch darüber hinaus Schutz zu suchen.

Auch Österreich war in einem bisher ungesehenen Ausmaß von der Ankunft vertriebener Ukrainerinnen betroffen – innerhalb weniger Wochen erreichten fast so viele Flüchtlinge das Land wie im gesamten Jahr 2015 zusammen. Sie alle wurden mit Nahrung, Kleidung und Unterkunft versorgt und erhielten temporären Aufenthalt. Allein im vergangenen Jahr hat Österreich auf diese Weise 80.000 Vertriebene aufgenommen – wobei, das ist nicht ganz korrekt, denn richtigerweise hat die österreichische Zivilgesellschaft 80.000 Vertriebene aufgenommen, bei sich zu Hause untergebracht, über Monate hinweg versorgt, bürokratische Wege für sie erledigt und Hürden überwunden, mit ihnen Deutsch gelernt und sie über die schwere Ankunftszeit hinweg gestützt. Das trifft auf Einzelpersonen und Familien, die ihre Heime und Herzen geöffnet haben, ebenso zu wie auf jenen Verein, der seit 2015 wie kein anderer für die immer wieder totgesagte, und dabei doch so lebendige österreichische Willkommenskultur steht: Train of Hope.

Ab dem 2. März 2022 betrieb Train of Hope das humanitäre Ankunftszentrum für Vertriebene in der Engerthstraße im 2. Wiener Gemeindebezirk, welches auch ich mehrmals besuchen durfte, als Privatperson, als Wissenschaftlerin, als Mitglied des Wiener Integrationsrats. Und immer war ich beeindruckt vom Engagement und von der Menschlichkeit, die mir dort entgegenschlugen – ganz nach dem Motto: humanity first.

Während sich der Rest Österreichs gerade in einer der letzten großen Coronawellen befand (übrigens eine noch dazukommende Erschwernis für die Koordination im Ankunftszentrum) und später dann dem Frühling und den steigenden Temperaturen frönte, und der Krieg in der Ukraine nach den anfänglich ängstlich verbrachten ersten Wochen in immer weitere (auch mediale) Ferne rückte, machten die Freiwilligen bei Train of Hope unbeirrt weiter: Täglich wurden bis zu 1.500 Personen aufgenommen, mit warmen Speisen, Getränken, Hygieneprodukten, Kleidung und Babybedarf versorgt. Es wurden Duschen, eine Spielecke für Kinder, eine Corona-Teststation, ein Kleiderbasar eingerichtet. Für die Haustiere, die viele der Ankommenden nicht in die Unterkunft mitnehmen konnten/wollten, wurde kurzfristig eine provisorische Auslaufstelle geschaffen, um auch den völlig verschreckten Tieren etwas Ruhe zu gönnen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie bei einem meiner Besuche Nina Andresen und ich, gemeinsam mit zwei Ukrainerinnen, spontan dazu abbestellt wurden, eine unter eine Stellage geschlüpfte, verschreckte Katze mit vereinten Kräften, gutem Zureden und vielen Leckerlis wieder hervorzulocken. Für diese kleinen, alltäglichen Hilfestellungen waren die Freiwilligen von Train of Hope genauso zur Stelle wie für die großen Themen, sei es Kommunikation und Koordination mit der Stadtverwaltung, Organisation von Notschlafstellen oder Lobbying für ukrainische Vertriebene über die erste Welle der fast euphorischen Hilfsbereitschaft hinaus.

Dabei konnten sie auf viel Erfahrung zurückblicken, hat Train of Hope dieses Land doch seit 2015 maßgeblich geprägt, als größte zivilgesellschaftliche Bewegung in der Flüchtlingshilfe. Im Herbst und Winter 2015 betreuten Freiwillige von Train of Hope Ankommende am Wiener Westbahnhof, sortierten Kleiderspenden, halfen bei der Essensausgabe, organisierten Dolmetscher, kümmerten sich um die Gesundheitsbetreuung und machten Fahrtendienste. Für mehr als 200.000 Geflüchtete in Wien wurden sie damit zur ersten Anlaufstelle – immer nach dem Motto: Nicht das Nötigste, sondern das Bestmögliche tun. Denn Menschen auf der Flucht sind zuallererst genau das: Menschen.

Die Menschlichkeit jedes und jeder Einzelnen im Blick zu haben, immer als höchste Maxime des eigenen Handelns zu verstehen, das ist, frei nach der deutsch-jüdischen Politologin Hannah Arendt, die selbst als Flüchtling aus Nazi-Deutschland in die USA emigriert war, der Hebel, um gesellschaftliche Spaltung und politischen Extremismus zu überwinden. Denn in einer Welt, so Arendt, in der bisherige Erklärungssysteme wie „die Natur“, „die Religion“ oder „die Geschichte“, die bis zu den emanzipatorischen Kämpfen des 19. und des 20. Jahrhunderts vorgaben, wer zur Kategorie „Mensch“ gehörte, und wer eben nicht (Frauen, Sklaven, Besitzlose), nach und nach ihre Wirkmacht verloren hatten, könne die grundlegende Humanität und Menschlichkeit jedes und jeder Einzelnen nur von den Menschen selbst zugestanden werden. Das bedeute unendlich mehr Freiheit, aber auch unendlich mehr Verantwortung als je zuvor in der Geschichte des Menschen.

Denn die Menschlichkeit jedes Menschen immer und bedingungslos zu bewahren und ins Zentrum jeglichen politischen wie individuellen Handelns zu stellen, immer das „Antlitz des Anderen“ vor sich zu sehen, wie es der polnische Philosoph Zymunt Bauman nennt, und danach zu handeln, ist eine Aufgabe, an der sich die Menschheit redlich abarbeitet, und dennoch immer wieder grandios scheitert.

Es brauchte eigentlich keine Pandemie und keinen Krieg in Europa, um zu dieser schmerzhaften Erkenntnis zu gelangen; ein Blick an die EU-Außengrenzen und die von Europa dort betriebene systematische und anhaltende Dehumanisierung Ankommender, etwa der Kinder, die im Dreck und Morast auf Lesbos hausen, der schwangeren Frauen, die vor Verzweiflung ins Wasser gehen, der Asylsuchenden, die monatelang in gefängnisähnlichen Komplexen „verwahrt“ werden und deren einziges Verbrechen darin besteht, Sicherheit und Freiheit zu suchen – ein Blick darauf würde schon reichen, um einzustehen, dass wir nicht allen „das Recht, zur Menschheit zu gehören“ garantieren können – oder wollen.

Dem allen stellen die Frauen von Train of Hope einen radikalen Gegenentwurf gegenüber, und der nennt sich bedingungslose Menschlichkeit. Sich „an der Stelle jedes anderen zu denken“, sich vorzustellen, wie es dem anderen ergeht, ist auch genau der Gegenentwurf, den Arendt im Sinn hatte, um Hass und Ausgrenzung in dieser Welt zu begegnen. Und genau das passiert Tag für Tag, Stunde für Stunde bei Train of Hope, ob am Westbahnhof, in der Engerthstraße oder jetzt im neu eröffneten Community Center im 15. Bezirk: Die Menschlichkeit jedes und jeder Schutzsuchenden steht immer im Mittelpunkt.

Und immer und immer wieder sind es die Frauen, die diesen folgerichtigen Schluss ziehen. Und der erschöpft sich nicht (oder nicht nur) im Erklären, Disputieren, Analysieren, vielleicht gar im Schreien und Toben – sondern im Tun. Reden über Integration (oder ihr vermeintliches Scheitern) tun vornehmlich die Männer; Integrationsarbeit leisten tun hierzulande, wie auch weltweit, die Frauen. Die Studentinnen, die neben Job und Uni ihre karge Freizeit dem Ankunftszentrum widmen; die Seniorinnen, die mit jungen Geflüchteten Deutsch lernen; die Mütter, die Babykleidung, Spielzeug und Kinderwägen spenden, weil sie das Schicksal der ukrainischen Kinder nicht kalt lässt; die Bürgermeisterinnen, die in ihren Gemeinden, auch wenn es unpopulär sein mag, Unterkünfte für Vertriebene schaffen; die Pastoralassistentinnen und Pfarrerinnen, die die Kirchen mit an Bord holen. All das viel zu oft und viel zu lange für Gotteslohn, denn die unbezahlte Arbeit, das ist auch so eine Spezialität von uns Frauen.

Es ist wohl kein Zufall, dass Train of Hope im vergangenen Jahr still und leise genau dann die Arbeit aufnahm, als draußen, in der Welt außerhalb der Sporthalle, eine andere, wesentlich lautere Bewegung ihren Höhepunkt erreichte: In allwöchentlichen Rundgängen zogen „besorgte Bürger“ in einer unheiligen Allianz mit Neonazis, Esoterikern und Reichsbürgern über die Ringstraße in den 2. Bezirk zum Wiener Prater. Gemeinsam schafften rechtsextreme Gruppen und Coronaleugner ein Gefühl vermeintlicher Nähe und Gemeinschaft, das sich aber im lautstarken Dagegensein erschöpfte, ohne Handlungsalternativen zu bieten.

Drinnen jedoch, weitaus weniger sichtbar und noch seltener hörbar, war durch die Frauen von Train of Hope etwas am Wachsen und Gedeihen, dass die Antithese zu diesen vor Hass blinden, tobenden Männern da draußen bildete: Die Vision einer gerechteren, faireren Welt, in der die Menschlichkeit und Integrität jeder und jedes Einzelnen immer und unter allen Umständen gewahrt wird.

Und seitdem haben sie unbeirrt und unermüdlich an dieser Vision gebaut; etwa in Form der hunderten Suppen, die täglich ausgegeben werden; beim Spielen mit den Kleinsten, um sie für ein paar Stunden Krieg und Flucht vergessen zu lassen; beim Organisieren von Handyladestationen und Duschen. Und eben bei der Suche nach verschreckten Haustieren, die den Menschen oft der einzige Anker in dieser aus den Fugen geratenen Welt sind, der ihnen noch geblieben ist.

Zwei Frauen von Train of Hope geben in der Sport und Fun Halle im 2. Bezirk im Humanitären Ankunftszentrum Ukraine Flaschen an Hilfesuchende aus
Frauen des Jahres

All das mag klein, ja fast banal in Anbetracht der großen Herausforderungen unserer Zeit wirken, und doch stoßen die Frauen von Train of Hope damit etwas an in dieser Welt; rühren etwas in ihr um, das weitere Kreise ziehen kann. Ihr zivilgesellschaftliches Engagement findet – wie so oft, wenn Frauen etwas tun, schaffen und machen – im Kleinen und Verborgenen statt und kennt die Mühen der Ebene besser als die kurze Euphorie des Gipfels. Dennoch trägt ihr Engagement, das das gemeinsame Tun und nicht das Reden, Anprangern, Anschreien in den Mittelpunkt stellt, immer gestalterisches Potential in sich. Nämlich Gestaltung einer gleicheren, gerechteren, menschlicheren Welt.

Aber vergessen wir nicht, dass auch die Zivilgesellschaft im Kleinen und Leisen neben eigenem Antrieb und Motivation entsprechende Rahmenbedingungen braucht, um ihre ureigene Kraft wirksam werden zu lassen.

Deshalb soll die heutige Laudatio nicht nur dazu dienen, Geleistetes zu feiern, sondern den ungebrochenen Willen, den Mut und die Kraft der Frauen von Train of Hope auch dazu zu verwenden, den Scheinwerfer auf ungelöste Herausforderungen zu werfen. Herausforderungen, die auf Dauer nicht von der Zivilgesellschaft alleine angegangen werden können. Wie z.B., dass Ukrainerinnen endlich von der Grundversorgung in die Sozialhilfe übernommen werden müssen; dass nach mehr als einem Jahr endlich dauerhafte Lösungen für jene geschaffen werden müssen, die bereits jetzt wissen, dass sie nicht mehr in die Heimat zurückkehren können oder wollen; dass es leistbare Mobilität und ein Ende der Zuverdienstgrenzen braucht, denn all das erschwert den Weg in die Erwerbstätigkeit und damit in die Selbstständigkeit. Und für die Frauen von Train of Hope braucht es, neben Lob, Anerkennung und Dank, also den Rosen, auch das sprichwörtliche Brot: Geld und Ressourcen, denn erst die machen den Marathon der Integrationsarbeit möglich.

Für diesen Marathon wünsche ich den Frauen von Train of Hope am heutigen Festtag von Herzen alles Gute und darf ihnen zur verdienten Auszeichnung als „Frauen des Jahres 2023“ gratulieren. Ich wünsche euch und allen Schutzsuchenden in Österreich noch viele Jahre des Engagements, des gemeinsamen Tuns und der Menschlichkeit.